Gemäss einem neuen Urteil des Bundesgerichts vom 21. Februar 2024 (BGer 8C_548/2023) liegt kein Schreckereignis vor, wenn sich eine vergewaltigte Frau nicht unmittelbar und vollständig an die Tat erinnern kann (KO-Tropfen). Wir können die Argumentation des Bundesgerichts nicht nachvollziehen.
Aussergewöhnliche Schreckereignisse werden von der Rechtsprechung als Unfall anerkannt, falls ein gewaltsamer, in der unmittelbaren Gegenwart der versicherten Person sich abspielender Vorfall einen psychischen Schock auslöste. Der Vorfall muss in seiner überraschenden Heftigkeit geeignet sein, auch bei einem gesunden Menschen durch Störung des seelischen Gleichgewichts typische Angst- und Schreckwirkungen hervorzurufen. Als Schreckereignisse in Frage kommen etwa Erdbebenkatastrophen, Eisenbahn- oder Flugzeugunfälle, schwere Autokollisionen, Brückeneinstürze, verbrecherische Überfälle, etc. Anders als bei den üblichen Unfällen steht bei Schreckereignissen die Stresssituation im Vordergrund (BGer 8C_609/2018; 8C_167/2016; 8C_376/2013).
Die Rechtsprechung stellt äusserst strenge Anforderungen an die Voraussetzung der Unmittelbarkeit. Verlangt wird nicht nur, dass sich der Vorfall in unmittelbarer Gegenwart der Person abgespielt haben muss, sondern auch, dass diese den Vorfall bewusst wahrgenommen hat. Falls der Schrecken allein durch die Vorstellung und das nachträgliche Bewusstsein ausgelöst wurde, verneint das Bundesgericht ein Unfallereignis (BGer 8C_376/2013).
Gestützt auf diese strenge Voraussetzung verneinte das Bundesgericht mit Urteil vom 21. Februar 2024 bei einer Frau ein Schreckereignis, die Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde (BGer 8C_548/2023). Die Frau erinnerte sich, einen Nachtclub gegen sieben Uhr morgens verlassen zu haben. Stunden später sei sie, nur mit einem T-Shirt bekleidet, aufgewacht. Neben ihr habe sich ein unbekannter Mann befunden, der die Wohnung, nachdem das Opfer aufgewacht sei, sofort verlassen habe. Beim anschliessenden Duschen habe die Frau Rückstände eines Kondoms in ihrer Vagina bemerkt. Es stellte sich heraus, dass der unbekannte Mann bei der Frau den Geschlechtsverkehr vollzogen hatte, nachdem er das Opfer zuvor vermutlich mit KO-Tropfen widerstandsunfähig gemacht hatte.
Die Vorinstanz bejahte zu Recht ein Schreckereignis, weil das Opfer angab, es könne sich bruchstückhaft an einzelne Bilder des Übergriffs erinnern. Es sei deshalb zumindest teilweise von einem bewussten Erleben des sexuellen Übergriffs auszugehen. Das Bundesgericht sah dies allerdings anders. Es stellte strikt auf die Beweismaxime der «Aussage der ersten Stunde» ab. Demgemäss sind die ersten spontanen Angaben der versicherten Person zuverlässiger als spätere Schilderungen, die bewusst oder unbewusst von Überlegungen versicherungsrechtlicher oder anderer Art beeinflusst sein könnten (BGE 143 V 168, BGer 8C_249/2023).
Die Frau sagte nämlich bei der ersten Polizeieinvernahme wiederholt aus, sie könne sich an nichts mehr erinnern. Auch gegenüber der gleichentags aufgesuchten Gynäkologin gab das Opfer offenbar an, nichts mehr zu wissen. Erst später im Rahmen der psychologischen Therapie konnte sich die Frau bruchstückhaft an Geschehnisse und den Übergriff erinnern, so z.B. an das Bild des Unbekannten, der sich über sie gebeugt habe, sowie an ihre Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Das Bundesgericht schloss, die Frau habe die Schändung nicht unmittelbar – d.h. mit eigenen Sinnen – wahrgenommen. Den Vorfall habe sie erst einige Stunden später realisiert, als sie beim Duschen Rückstände eines Kondoms in ihrer Vagina gefunden habe. Allein die Vorstellung, was geschehen sein könnte, genüge als Voraussetzung für das Vorliegen eines Schreckereignisses nicht – so das Bundesgericht.
Dieser Entscheid ist aus zweierlei Hinsicht stossend:
Es ist nicht einzusehen, weshalb das Bundesgericht bei traumatischen Ereignissen derart strikt auf das Prinzip der «Aussage der ersten Stunde» abstellt. Denn es ist erwiesen, dass bei Personen, die einen Schock oder ein Trauma erleiden, eine Gedächtnislücke eintreten kann, die unter Umständen sogar mehrere Jahre umfassen kann. Das Bundesgericht hätte deshalb im vorliegenden Fall wie die Vorinstanz die Aussagen des Opfers einer Gesamtschau unterziehen und diese entsprechend würdigen müssen. So ist es doch nachvollziehbar, dass sich die unter Schock stehende und in Angst befindende Frau zu Beginn an nichts mehr erinnert. Es ist absolut einleuchtend, dass bruchstückhafte Erinnerungen an das Geschehen erst mit der Zeit und mit der psychologischen Aufarbeitung des Traumas ins Bewusstsein vordringen.
Weiter ist die vom Bundesgericht für die Unmittelbarkeit relevante Unterscheidung zwischen bewusstem und unbewusstem Wahrnehmen eines Vorfalles in Frage zu stellen. Tatsache ist, dass ein sexueller Missbrauch, wie im zu beurteilenden Bundesgerichtsentscheid, ein unmittelbarer und schwerer Eingriff in die sexuelle Integrität einer Frau ist und in der Regel für die Betroffene gravierende gesundheitliche Folgen hat. Es ist daher nicht einzusehen, weshalb diejenigen Frauen, die sich nicht oder nur vage an das Geschehen erinnern, unfallversicherungsrechtlich schlechter gestellt werden sollten. Zudem ist eine Abgrenzung zwischen Bewusst- und Unbewusstsein schwierig zu treffen. Denn auch ein anfänglich unbewusstes, allenfalls verdrängtes Erleben kann später ins Bewusstsein gelangen und ebenso massive Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Person haben. Das Bundesgericht täte also gut daran, andere Anknüpfungskriterien an die Voraussetzung der Unmittelbarkeit zu knüpfen.