Am 1. Januar 2022 tritt das revidierte VVG in Kraft. Dieses sieht unter anderem eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Ansprüche aus Versicherungsverträgen von zwei auf fünf Jahre vor (Art. 46 nVVG). Ausserdem steht dem geschädigten Dritten gegenüber der Haftpflichtversicherung neu ein direktes Forderungsrecht zu (Art. 60 nVVG).
Die einzige Übergangsbestimmung im revidierten VVG lautet:
Art. 104 nVVG
Für Verträge, die vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 abgeschlossen worden sind, gelten folgende Bestimmungen des neuen Rechts:
a. die Formvorschriften;
b. das Kündigungsrecht nach den Artikeln 35a und 35b.
Im Umkehrschluss könnte dies bedeuten, dass grundsätzlich alle anderen Bestimmungen nur auf neu abgeschlossene Verträge ab 1. Januar 2022 anzuwenden sind (vgl. Moreno/Wendelspiess, Der Regress im neuen VVG, HAVE 3/2021, S. 245).
Einige Autoren, zum Beispiel Bürkle/Hohler, scheinen, was die Verjährung betrifft, dieses Übergangsrecht ebenfalls so zu interpretieren:
«Es ist davon auszugehen, dass die neue fünfjährige Verjährungsfrist nur auf Ansprüche aus Verträgen zur Anwendung gelangt, welche nach dem 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden. So ergibt sich aus der relevanten Übergangsbestimmung (neu Art. 104 VVG), dass für vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossene Verträge nur die neuen Bestimmungen zu den Formvorschriften und die Regelung des Kündigungsrechts gemäss neu Art. 35a und 35b VVG gelten.»
Das kann jedoch kaum die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein. Der Übergangsartikel 104 nVVG befasst sich nur mit Verträgen («für Verträge»). Art. 104 nVVG meint somit lediglich Gesetzesbestimmungen, die sich mit dem Versicherungsvertrag befassen, also Vertragscharakter haben. Dementsprechend befasst sich nach Meinung der Autorinnen dieses Beitrags Art. 104 nVVG mit:
Aus der Botschaft (BBl 2017, S. 5136) lässt sich nicht wirklich viel entnehmen: Art. 104 nVVG (Übergangsbestimmung): «Mit Blick auf eine verhältnismässige Regelung für bereits laufende Versicherungsverträge gelten für diese nur die Formvorschriften und das Kündigungsrecht ab Inkrafttreten des Gesetzes; alle anderen Bestimmungen gelten lediglich für neu abgeschlossene Verträge». Aber auch hier ist nur von den «Regelungen» für «Verträge» die Rede.
Die Übergangsbestimmung Art. 104 nVVG trifft aber keine Regelungen zu laufenden Schadenfällen und in Bezug auf Ansprüche oder Forderungen aus dem Versicherungsvertrag. Sie sagt auch nichts über die Verjährung. Bestimmungen wie das direkte Forderungsrecht des Geschädigten sowie das neue integrale Regressrecht des Versicherers betreffen nicht nur das Verhältnis der direkten Vertragspartner. Diese Bestimmungen wirken sich wesentlich auf Dritte aus (vgl. Moreno/Wendelspiess, a.a.O.). Der Gesetzgeber konnte kaum gemeint haben, dass der Anwendungsbereich des Übergangsartikels Art. 104 nVVG auch diese «Drittwirkungen» der VVG Bestimmungen umfasst.
Schadenfälle und Forderungen aus dem Versicherungsvertrag, inklusive laufende Schadenfälle, die Verjährung der Forderungen aus Versicherungsvertrag (Art. 46 nVVG), das direkte Forderungsrecht des Geschädigten (Art. 60 nVVG) sowie das integrale Regressrecht des Versicherers (Art. 95c nVVG) sind somit nach der hier vertretenen Ansicht im Übergangsrecht des neuen VVG (Art. 104 nVVG) nicht geregelt.
Übergangsrecht des direkten Forderungsrechts
Regelt der Gesetzgeber den zeitlichen Anwendungsbereich bei einer privatrechtlichen Gesetzesrevision nicht besonders, so sind die Art. 1 bis 4 Schlusstitel (SchlT) ZGB massgebend. Art. 1 SchlT ZGB enthält als Grundregel die Nichtrückwirkung einer Gesetzesänderung. Diese gilt für den gesamten Bereich des Zivilrechts. Sie schützt das Vertrauen in den Bestand von Rechten, die einmal rechtsgeschäftlich gesetzeskonform begründet wurden (BGE 140 III 404 E. 4.2.; BGE 138 III 659 E. 3.3, S. 662 mit Hinweis). Die rechtliche Wirkung von Tatsachen, die vor dem Inkrafttreten einer neuen Gesetzesbestimmung eingetreten sind, werden also auch nachher gemäss den früheren Bestimmungen beurteilt (Art. 1 SchlT ZGB).
Dieser Grundsatz erfährt jedoch erhebliche Einschränkungen. So ist gemäss Art. 2 SchlT ZGB eine Rückwirkung zulässig, wenn die Gesetzesbestimmung um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt wurde. Ob eine Rückwirkung nach Art. 2 SchlT ZGB eintritt oder nicht, ist eine Frage der Auslegung der rechtspolitischen Motive, welche zur Gesetzesrevision geführt haben (BGE 140 III 404 E. 4.2; BGE 138 III 659 E. 3.3). Um diese Frage zu beantworten, sind die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen. Zu beurteilen ist, ob die öffentlichen Interessen, die mit dem neuen Recht verfolgt werden, gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen (z. B. Vertrauensschutz) überwiegen (BGE 140 III 404 E. 4.2.; BGE 133 III 105 E. 2.1.4; siehe auch BGE 127 III 16 E. 3).
Sodann sind Rechtsverhältnisse, deren Inhalt unabhängig vom Willen der Beteiligten durch das Gesetz umschrieben wird, nach dem Inkrafttreten des neuen Rechts nach diesem zu beurteilen, auch wenn sie vor diesem Zeitpunkt begründet worden sind (Art. 3 SchlT ZGB; BGE 140 III 404 E. 4.2.).
Eine Interessenabwägung gemäss Art. 2 SchlT ZGB und eine Auslegung nach Art. 3 SchlT ZGB dürfte zum gleichen Ergebnis führen, wie die vorstehend von den Autorinnen vorgenommene Auslegung von Art. 104 nVVG. Die Kundinnen und Kunden sowie geschädigte Dritte sollen mit der VVG Revision mehr Rechte erhalten, und der Konsumentenschutz wird ausgebaut. Zudem wird den Versicherern das integrale Regressrecht ermöglicht. Bei solchen zentralen Neuerungen rechtfertigt sich ein gewisser Eingriff in rechtsgeschäftlich erworbene Rechte.
Das direkte Forderungsrecht war eine der wesentlichsten Forderungen des Konsumentenschutzes. Gemäss der hier vertretenen Auffassung soll das direkte Forderungsrecht ab 1. Januar 2022 anwendbar sein. Für eine geschädigte Person wäre es schlichtweg unzumutbar, wenn sie noch Abklärungen zum Vertragsabschluss zwischen der Versicherung und dem Schädiger treffen müsste. Ausserdem könnte es bei laufenden Verträgen Jahre dauern, bis diese erneuert werden. Dies hätte zur Folge, dass sowohl altes als auch neues Recht während langer Dauer gleichzeitig zur Anwendung kommen würden. Es kann nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein, dass das direkte Forderungsrecht zugunsten des Geschädigten sowie das integrale Regressrecht der Versicherungen erst Anwendung finden, nachdem eine Anpassung des Versicherungsvertrages stattgefunden hat.
Übergangsrecht des Verjährungsrechts
Seit dem Inkrafttreten des neuen Verjährungsrechts am 1. Januar 2020 besteht ein neuer Art. 49 SchlT ZGB:
«1 Bestimmt das neue Recht eine längere Frist als das bisherige Recht, so gilt das neue Recht, sofern die Verjährung nach bisherigem Recht noch nicht eingetreten ist.
2 Bestimmt das neue Recht eine kürzere Frist, so gilt das bisherige Recht.
3 Das Inkrafttreten des neuen Rechts lässt den Beginn einer laufenden Verjährung unberührt, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt.
4 Im Übrigen gilt das neue Recht für die Verjährung ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens».
Dieser neue Art. 49 SchlT ZGB entspricht dem früheren Art. 883 des Obligationenrechts (OR) von 1881. Art. 102 des bisherigen VVG, der auf Art. 883 aOR verwies, wird im revidierten VVG aufgehoben.
Art. 49 SchlT ZGB ist lex specialis zu Art. 1 bis 4 SchlT ZGB und gilt für alle zivilrechtlichen Verjährungsfristen. Die Bestimmung umfasst auch Nebenerlasse sowie das öffentliche Recht (vgl. Raphael Märki, Das neue Verjährungsrecht – Übergangsrechtliche Regeln, in: Walter Fellmann [Hrsg.]: «Das neue Verjährungsrecht», Bern 2019, S. 157 f.).
Art. 49 SchlT ZGB ist somit auch auf das neue VVG anwendbar. Nach der hier vertretenen Ansicht kommt daher die für den Versicherten günstigere längere Verjährungsfrist von fünf Jahren ab 1. Januar 2022 zur Anwendung.
Dieser Text ist nicht als verbindliche Rechtsauskunft zu verstehen, sondern enthält die Gesetzesauslegung und persönliche Meinung der Autorinnen.