Kürzlich sind eine Bundesrichterin/eine Gerichtsschreiberin im Rahmen eines Artikels zum strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu folgendem Fazit gelangt: «Der Mensch ist gesund, was bei gesamthafter Betrachtung nicht nur der Realität entspricht, sondern auch einem positiven Weltbild unserer Gesellschaft»[1]. Dieses Fazit hat nun bereits als eine Art Erfahrungstatsache oder Vermutung Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung gefunden. In einem Entscheid des Bundesgerichts wird ausgeführt, dass die versicherte Person als grundsätzlich gesund anzusehen sei (BGE 144 V 50 E. 4.3.). Aber trifft diese Vermutung auch zu?
In seinem Artikel setzt sich Dr. med. Jörg Jeger, Chefarzt der MEDAS Zentralschweiz, aus ärztlicher Sicht mit dieser Vermutung auseinander. Jeger berichtet über diverse statistische Untersuchungen zum Gesundheitszustand der schweizerischen Bevölkerung und zeigt gestützt auf diese wissenschaftlichen Daten auf, dass die Vermutung «der Mensch ist gesund» weder für die Gesamtbevölkerung noch die Gruppe derjenigen Personen, welche sich bei der Invalidenversicherung für den Leistungsbezug anmeldet, zutrifft: Die grundsätzliche Vermutung der Gesundheit der Schweizer Bevölkerung könne mit dem empirischen Datenmaterial zum Gesundheitszustand der Schweizer Bevölkerung nicht überzeugend belegt werden.
Warum ist das wichtig? Im Grundsatzurteil BGE 141 V 281 hat sich das Bundesgericht dazu verpflichtet, zukünftig ergebnisoffen über Rentenansprüche entscheiden zu wollen. Dr. Jeger warnt in seinem Artikel davor, die Ergebnisoffenheit des Verfahrens mit neuen, sachlich unbegründeten Vorannahmen wie der vorliegenden zu gefährden. Er fordert das Bundesgericht deshalb auf, die empirische Basis für solche Vermutungen offen zu legen. Ansonsten hätten solche Vermutungen keine Berechtigung.
[1] Alexia Heine/Beatrice Polla, das Bundesgericht im Spannungsverhältnis von Medizin und Recht, das strukturierte Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 und seine Auswirkungen, Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2018, DIKE Verlag (2018), S. 133-146.